DIE TONKUNST online

Ausgabe 0608 / 01. August 2006

 

SCHALLTRICHTER

Andreas Oswald (1634-1665): Sonaten, CD

Chelycus | Organum | Classics Ogm 261036 (2006)

Die abendländische Musikgeschichte hält immer wieder Überraschungen bereit – das zeigt beispielhaft das Ensemble Chelycus anhand von Sonaten des Komponisten Andreas Oswald (1634-1665), der zunächst als Weimarer Hof- und später als Eisenacher Stadtorganist angestellt war. Wem sagt dieser Name etwas? Die meisten Lexika und auch sonstige musikwissenschaftliche Literatur schweigen sich über ihn aus; wesentliche Informationen liefert Michael Fuerst, Organist und Cembalist des Ensembles Chelycus, im Beiheft der CD. Schnell ersichtlich ist, daß Andreas Oswald nichts mit dem in Karlsbad geborenen, in Augsburg tätigen Kaplan zu tun hat, der laut August Reißmanns 7. Band des Musikalischem Conversations-Lexikons im Jahre 1733 Vesperpsalmen publizierte (Berlin ²1881, S. 440). Andere Quellen geben abweichend das Jahr 1734 an (Eitners Quellen-Lexikon; New Grove 1). Robert Eitner, der auch nur den Pater unter diesem Namen erwähnt, nennt als dessen Werke nicht bloß die 21 Psalmvertonungen, sondern merkwürdigerweise auch eine „Sonata à 3 V. c. Bc.“ mit dem Zusatz „Ms. Upsala“ (Biographisch-Bibliographisches Quellen-Lexikon, Bd. 7, Leipzig 1902, S. 254). Sofern die genannte Sonate in der Düben-Sammlung in Uppsala überliefert ist, lohnt es sich zu prüfen, ob sie nicht von Oswalds thüringischem Namensvetter aus dem 17. Jahrhundert stammt; schließlich läßt sich die umfangreiche Musikaliensammlung innerhalb des zeitlichen Rahmens zwischen etwa 1640 und 1715 einordnen (vgl. Erik Kjellberg: Über Inhalt und Bedeutung der Instrumentalmusik in der Düben-Sammlung, in: Dietrich Buxtehude und die europäische Musik seiner Zeit [Kieler Schriften zur Musikwissenschaft, Bd. 35], Kassel 1990, S. 164). Hier fügen sich die Lebensdaten des thüringischen Organisten besser ein – stilistische Merkmale der Quelle selbst könnten eine korrekte Zuschreibung ermöglichen. Zusätzliche Verwirrung stiftet die Tatsache, daß es einen dritten Musiker namens Andreas Oswald gegeben hat, den Vater des thüringischen Organisten, der denselben Beruf hatte und sowohl in Weimar als auch in Eisenach Vorgänger seines Sohnes war (s. Booklet, S. 7). Wolfgang Lidke geht in der MGG 1 noch von ein und derselben Person aus: „Außerdem war Günther […] Hoforganist, während Andreas Oswald 1630 bis 1662 dieses Amt versah und seinerseits zeitweilig der Hofkapelle vorstand.“ (Art. Weimar, Bd. 14, Kassel 1968, Sp. 392). Ob sich Lidkes folgende lobende Bemerkung nun auf Vater oder Sohn bezieht, ist nicht eindeutig, zumal die Weimarer Hofkapelle mehrmals aufgelöst wurde: „Auch der Organist Oswaldt, der in den ersten Jahrzehnten des Bestehens einer ständigen Hofmusik in Weimar deren Leitung zeitweilig übernommen hatte, muß ein fähiger Musiker gewesen sein.“ (in: Das Musikleben in Weimar von 1683 bis 1735, Weimar 1954, S. 11). Wenn der Autor die Blütezeit zwischen 1652 und 1662 meinte (vgl. Art. Weimar, MGG², Sachteil Bd. 9, Kassel 1998, Sp. 1923), dann muß es sich um den Sohn handeln. Daß es möglicherweise eine ganze Musikerfamilie namens Oswald zu geben schien, darauf könnte eine Fußnote (23) in Eberhard Immigs Aufsatz Die Erfurter Stadtmusik im 17. und 18. Jahrhundert hindeuten, der das Bestallungsprotokoll eines Stadtmusikanten namens Johann Oswald vom 30. Juli 1682 erwähnt (in: Erfurter Musikkultur im Barock [Kleine Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt, Bd. 4], Erfurt 2000, S. 14). Das Ensemble Chelycus hat in fesselnder Weise neun der erhaltenen 18 Sonaten für ein bis drei Melodieinstrumente und Basso continuo des Thüringer Organistensohnes Andreas Oswald eingespielt, die hauptsächlich aus einer Quelle aus dem Jahre 1662 stammen. Sie sind mit einer jeweiligen Dauer von vier bis mehr als neun Minuten bei dieser Einspielung relativ ausgedehnt und lassen aufgrund ihrer eigenen Ausprägung kaum einen wirklichen Vergleich mit anderen Werken zu. Italienisch angehaucht in ihrer Virtuosität und Extravaganz, wie sie auch im deutschsprachigen Raum beliebt war, muten die musikalischen Einfälle Oswalds oft bizarr an. In Verbindung mit liedhaften Abschnitten sorgen sie für Kontraste – diese Vorliebe für große Gegensätze auf engem Raum teilte der Komponist offensichtlich mit seinen Zeitgenossen. Daß er nicht in Floskeln verfällt, dazu tragen auch ausgedehnte Variationen bei. Sowohl überraschungsvolle Abschnitte (später jeweils als Bizzaria bezeichnet) als auch Arien lassen einen an die etwa ein Vierteljahrhundert später publizierten Sonaten des Niederländers Carolus Hacquart (ca. 1640 - vermutlich 1701) denken. Den großen Einfallsreichtum spiegeln die Instrumentalisten von Chelycus mit ihrem impulsiven und höchst kunstvoll spontan wirkenden Spiel preisverdächtig wider. In variierender Besetzung von ein oder zwei Violinen, Viola da gamba, Tenor-Posaune, Dulzian, Chitarrone und Orgel oder Cembalo schaffen sie ein weites Spektrum an Klangfarben. Die von Mads Kjersgaard rekonstruierte Orgel in der Schloßkapelle Gottorf bereichert das historische Instrumentarium, wobei der Kirchenraum ein aufnahmetechnisch passendes Ambiente für den eingefangenen Klang bietet. In den Sonatae I und II drückt nicht nur Veronika Skuplik (Violine) mit gewandt eingeflochtenen und eher im Hintergrund bleibenden virtuosen Diminutionen bei schnellen Passagen zwischen den liedhaften Abschnitten Spielfreude aus, sondern auch das reich besetzte Continuo-Ensemble. Unterschiedliche Kombinationen der Generalbaßinstrumente, auch der Wechsel von Cembalo und Orgel (Michael Fuerst) in der Begleitung wie bei der Sonata II (Track 1), oft gemeinsam mit Chitarrone (AndreasArend) und Dulzian (Adrian Rovatkay), lassen den Hörer zusätzlich zu den neuen werkimmanenten Einfällen aufhorchen. Andreas Arend greift offenbar gerne gitarristisch in die Theorbensaiten – teils nachschlagend auf unbetonten Taktzeiten, teils explosiv wie ein Trommelwirbel im Verbund mit Solovioline und den übrigen Continuo-Instrumenten nach einer völlig entspannt auslaufenden Kadenz (Track 1). Die Energie, mit der die Musiker die Werke aufladen, entsteht nicht als Selbstzweck, da sie kompositorisch angelegte Kontraste unterstützt. Durch hervorragende Beherrschung der Instrumente behält die Musik die nötige Leichtigkeit. Selbst besinnliche Passagen stehen niemals auf der Stelle – atmendes, richtungsorientiertes Spiel sorgt für ein leichtes Schwingen der Musik. Steigerungs- und Beruhigungsphasen erzeugen zusätzlich Dynamik im gesamten Kontext. Die Gottorfer Schloßkapellenorgel ermöglicht unterschiedliche Registrierungen, darunter ein Zungenregister oder eins in 4’-Lage als Basis, ohne klanglich zu dominieren, schafft also weitere Abwechslung. Veronika Skuplik harmoniert mit Christine Moran (Sonatae III, IX, X) und mit Elin Erikson (Sonata IV), Violine, genauso wie mit Matthias Müller (Viola da gamba; Sonata X). Sonata IV beginnt mit einer Aria. Hier überraschen harmonisch reizvolle Wendungen bei häufig paralleler Stimmführung der beiden Violinen, die etwas an die erst in den 1670er Jahren publizierten Triosonaten des Hamburger Komponisten Dietrich Becker erinnern. Energisch und spritzig musizierte, rasche Einwürfe unterbrechen die lyrischen Abschnitte. In anderen Sonaten fügen sich auch die beiden Bläser Ole-Christian-Andersen (Tenor- Posaune) und Adrian Rovatkay (Dulzian) gut in den Gesamtklang – gleich, ob furios solistisch oder dezent begleitend. Sonata XVII (Track 6) mit Violine, Posaune, Dulzian und Generalbaß, in der jedes Melodieinstrument anschaulich nacheinander mit seinen Klangcharakteristika vorgestellt wird und Adrian Rovatkay seinem Dulzian logischerweise mehr als in der Continuo-Rolle verschiedene Tonfärbungen entlockt, sind die Instrumente gut aufeinander abgestimmt. Von Streicherklängen werden die Sonaten III, IV und IX geprägt. Strahlend klare und zugleich warme Tongebung dank bester Bogentechnik lassen die Werke in hellem Licht erscheinen. Insgesamt musiziert das Ensemble Chelycus mit feurigem Temperament und bleibt dabei immer kultiviert. Fazit: Sowohl die individuellen Sonaten Andreas Oswalds als auch deren mitreißende Interpretation durch Chelycus erweisen sich als lohnender Fund.

[Almut Jedicke]

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